MIT.Blog: Sprachwandel vs. Sprachverfall

Jugendsprache als Graffiti

Sprachverfall

Es scheint verhältnismäßig viele Menschen zu geben, die den Verfall der deutschen Sprache durch die Sozialen Medien beklagen, im Internet, im Radio und in der Zeitung. Vielleicht ist das so, weil Sprache ja jede*r kann – und sie auch irgendwie keine*r so ganz beherrscht. Das könnte in dem Fall das Gleiche sein – oder dasselbe? Richtig schreiben können wollen wir alle, und zwar so ein schönes, ordentliches Deutsch.

 Sprachwandel

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nicht vom Sprachverfall, sondern vom Sprachwandel reden. Denn, so sagen jene, eine Sprache, die sich wandelt, ist eine lebendige Sprache. Und gab es nicht schon immer „Seufz“ und „Stöhn“ in den Donald-Duck-Comics oder die Worte „Ankomme Mittwoch“ in den Telegrammen vergangener, vermeintlich sprachgoldener Zeiten? Und selbst im Jahre 2018 sprechen ja die Deutschen wohlartikuliert und stammeln noch nicht.

Zweiter Lagebericht zur deutschen Sprache und Jugendwort 2017

Im September 2017 wurde der „Zweite Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften herausgegeben und gab Entwarnung für den Sprachverfall. Im November desselben Jahres wurde „Ibims“ zum Jugendwort 2017 gekürt. Als ich „Ibims“ dabei zum ersten Mal hörte, dachte ich, das sei etwas Bayrisches. Und tatsächlich berichtet der Deutschlandfunk in seiner Sendung zur Lage der deutschen Sprache davon, dass neben der Standardsprache sowohl die Regionalsprachen als eben auch Jugendsprache zu den Varietäten der deutschen Sprache gehören. Dem RBB versichert Wolfgang Klein, Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dass der deutsche Wortschatz immer reicher werde. Er weist außerdem auf den feinen Unterschied zwischen der deutschen Sprache und der Beherrschung der deutschen Sprache hin.

Verfall der Sprachbeherrschung?

Also sollten wir zunächst einmal, wenn überhaupt, den Verfall der Beherrschung der deutschen Sprache durch Jugendliche beklagen? Um die Frage beantworten zu können, müssten wir herausfinden, ob die Texte, die wir in den Sozialen Medien lesen und schreiben, eine Auswirkung auf unsere allgemeine Schreibkompetenz haben bzw. auf die der Jugendlichen, die ihre Schreibkompetenz ja noch ausbilden. Zur Beantwortung könnten wir empirische Studien heranziehen, die die Texte Jugendlicher, z.B. schulische Texte, mit längeren Texten aus den Sozialen Medien möglichst derselben Jugendlichen vergleichen. Von diesen Studien gibt es bisher relativ wenige. Einen Überblick über bisherige Studien findet sich in unserem Blogpost „Wovon wir ausgehen“.

 Warum ist die Erforschung des vermeintlichen Sprachverfalls so schwierig?

Aber warum ist es eigentlich so schwierig, im Internet erschienene Texte auf z.B. so etwas wie sprachliche Richtigkeit zu überprüfen und mit der sprachlichen Richtigkeit von Offline-Texten zu vergleichen? Zunächst einmal kann man nicht einfach Texte aus dem Netz ohne Einverständnis der Autor*innen kopieren und für die linguistische Forschung nutzen. Es müssen linguistische Korpora angelegt werden, was sehr (zeit)aufwändig ist, während das Internet sich und seine Inhalte, wie wir alle wissen, schnell wandelt. Dann sind auch nicht alle Texte, die im Internet erscheinen, gleich.

Erschiene z.B. ein Tweet auf Wikipedia, so würde er dort unter Umständen “falsch” wirken. Form und Sprache, ja sogar Inhalt der Texte richtet sich auch nach den Plattformen, auf denen sie erscheinen. Außerdem kann man nicht einfach einen Online-Text ausdrucken und ihn mit einem Offline-Text vergleichen. Die nicht funktionierenden Links, Videos und Töne des ausgedruckten Online-Textes machen deutlich, dass diese Texte aus mehr bestehen, als nur aus Schrift und Bildern. Es geht, soviel ist klar, um mehr als um korrekte Rechtschreibung. Welches Kategorienmodell aber gibt es bisher, das bei der Untersuchung beiden Textsorten gerecht würde?

Textorientiertes vs. interaktionsorientiertes Schreiben

Besonders die Sprache Jugendlicher in Chats, die ja immer wieder Anlass bietet, den Sprachverfall zu beklagen, lässt sich mit der Sprache von Schulaufsätzen nur schwer vergleichen. Angelika Storrer, Germanistikprofessorin hier bei uns in Mannheim und Mitautorin des Berichts zur Lage der deutschen Sprache, erkennt in den Texten Jugendlicher aus den Sozialen Medien eine interaktionsorientierte Haltung zur Schriftsprache und kein textorientiertes Schreiben mehr, das zum Verfassen und Überarbeiten längerer z.B. journalistischer Texte notwendig ist. Dieses schnelle, interaktionsorientierte Schreiben diene der Kommunikation mit Freunden, ersetze aber das normkonforme textorientierte Schreiben nicht, sondern sei eine Ergänzung. Sie schreibt: „Die bisherigen Studien sprechen eher dafür, dass der interaktionsorientierte Schreibstil nicht auf die redigierte Schriftlichkeit “abfärbt” und dass kompetente Schreiber und selbst Jugendliche durchaus dazu in der Lage sind, situationsangemessen zwischen verschiedenen Schreibhaltungen und -stilen zu wechseln.“ (Storrer, 2013, PDF) Falsch sei aber auch, bei den „living documents“ des interaktionsorientierten Schreibens und hypertextuell vernetzten Kommunizierens einfach von einer verschrifteten medialen Mündlichkeit zu sprechen.

Sprache hängt vom Empfänger ab

Dies bedeutet, dass die Jugendlichen eigentlich beide Schreibformen beherrschen. Auch der Germanistikprofessor Jürgen Erich Schmidt, ebenfalls Mitautor des Lageberichts, sagt dem WDR: „Noch nie gab es so viel Standard wie heute“. Die Verwendung der jeweiligen Sprache, so heißt es weiter in dieser Sendung, hänge ab vom Empfänger. Und der Spiegel berichtet schließlich von einer Studie, die besagt, dass junge Leute trotz intensiver Handyzeit offenbar nicht weniger lernen.

Ein neues Kategorienmodell für die Beschreibung von Sprachwandel

Ist also der Sprachverfall passé und wir einigen uns auf den Sprachwandel? Elisabeth Berner (2009, Uni Potsdam, PDF) schreibt: „Da sich Sprache insgesamt ständig den permanent ändernden kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst, ist die These vom Sprachverfall grundsätzlich abzulehnen, was jedoch nicht ausschließt, dass einige Veränderungen in Teilbereichen der Sprache von einzelnen Gruppen der Sprachgemeinschaft als “unschön” oder bisherigen Normen widersprechend und damit als “unangemessen” bewertet werden.“ Und weiter heißt es bei ihr: „Sprachwandel zu beschreiben setzt zunächst die Annahme eines Sprachmodells voraus, das geeignet ist, der Komplexität und Vielschichtigkeit von Sprachwandelerscheinungen gerecht zu werden.“

Bliebe also der Sprachwandel zu beschreiben, mit empirischen Studien und einem neuen Kategorienmodell, das auch den neuen interaktionsorientierten, multimodalen Texten gerecht werden kann. Denn Online-Texte sind nicht das Gleiche wie Offline-Texte und schon gar nicht dasselbe.

Kommentar verfassen