Wenn man darüber nachdenkt, wie man Textqualität messen kann, liegt es nahe, die wahrgenommene Qualität ebenfalls zu beachten. Damit meinen wir die Frage, für wie angemessen „echte Menschen“ (hier durchaus im Gegensatz zu Sprachwissenschaftler*innen zu lesen) bestimmte Konstruktionen halten. Das möchten wir wissen, weil wir oft – zumindest implizit – Annahmen darüber machen, was die Sprecher*innen des Deutschen für angemessen halten. Doch statt darüber zu spekulieren, kann man sie auch einfach fragen.
„Einfach fragen“ ist gar nicht so einfach
„Einfach fragen“ – so einfach ist es leider dann doch nicht. Fragebogenstudien, in diesem Fall die Methode unserer Wahl, wollen gut geplant sein. Ausschlaggebend sind dabei insbesondere drei Aspekte: (1) Das Material, das den Teilnehmer*innen vorgelegt wird (die sog. „Stimuli“), und (2) die konkrete Studiensituation, die bei einem Fragebogen hauptsächlich aus den Fragen und den Antwortmöglichkeiten besteht. Der dritte Aspekt ist für die Teilnehmer*innen der Studie, wenn überhaupt, nur indirekt zu sehen: (3) das Design der Studie, d.h. die Kombinationslogik von Aufgaben und Fragen, die die einzelnen Befragten im Laufe des Experiments zu sehen bekommen.
Material: Was die Leute sahen
Wie Teilnehmer*innen einen bestimmten Satz einschätzen ist – so unsere Hypothese – immer auch davon abhängig, in welchem Medium er geäußert wird. Deshalb haben wir zwei „Kontext-Variationen“ jedes Satzes erstellt: Einmal in Form einer WhatsApp-Textnachricht und einmal in Form einer Printzeitung. Wir wollten es damit den Befragten leichter machen, sich vorzustellen, dass der Satz im jeweiligen Medium geschrieben wurde. Der konkrete Satz selbst war dabei über die verschiedenen Medien hinweg identisch. Lediglich der Kontext und das Aussehen der „Umgebung“ waren unterschiedlich.
In diesen unterschiedlichen Medieneinbettungen haben wir Sätze in drei sprachlichen Versionen gezeigt:
- Schriftstandard-nahe weil-Sätze mit Verbletztstellung (Vletzt) im Nebensatz: „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil sie die passende Ausbildung hat.“
- Eher mündlich klingende weil-Sätze mit Verbzweitstellung (V2): „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil sie hat die passende Ausbildung.“
- Stark abgekürzte (elliptische) Sätze wie „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil Ausbildung.“
In den elliptischen Sätzen fehlt sowohl das Verb als auch das Adjektiv, das das Nomen näher spezifiziert (im Beispiel „passende“). Diese elliptische Version mag etwas extrem anmuten. In der Tat haben wir in einer Pilot-Untersuchung auch „schwächere“ Ellipsen überprüft, in denen nur das Verb fehlte, das Adjektiv aber noch vorhanden war. In der Pilotstudie zeigten sich keine klaren Unterschiede zwischen den beiden Versionen der elliptischen Konstruktion. Daher haben wir uns in der vorliegenden Studie entschieden, nur die starke Version der Ellipse zu präsentieren. Jede Person hat von jedem der insgesamt 9 Sätze natürlich nur eine Version gesehen.
Unsere zentrale Frage war, ob Sätze, die eher dem Schriftstandard entsprechen (Vletzt), hauptsächlich in einem schriftsprachlichen Kontext als angemessen wahrgenommen werden und vielleicht sogar im Kontext einer WhatsApp-Nachricht als weniger angemessen gelten. Hier könnten Sätze, die eher mündlich klingen (V2) oder stark abgekürzt sind (Ellipse) eher als angemessen wahrgenommen werden.
Aufgabe: Was die Leute tun mussten
In der Studie haben wir gleich drei Aufgaben auf einmal getestet: Wir ließen die Befragten entweder komplette Sätze direkt einschätzen (Rezeption), unvollständige Sätze zu Ende schreiben (Produktion) oder Sätze zu bestimmten Medien bzw. Textsorten zuordnen (Assoziation). Jede Person haben wir fest einer Aufgabe zugeordnet: Wer bspw. einmal vom Zufallsgenerator der Rezeptionsbedingung zugeordnet wurde, wird somit für den Rest des Fragebogens nur Sätze einschätzen und niemals produzieren oder assoziieren. Dies haben wir insbesondere deshalb so gehandhabt, weil Versuchsteilnehmer*innen leicht verwirrt werden könnten, wenn sich ständig die Aufgabe ändert, die sie zu bearbeiten haben.
Design: Die Durchführungslogik der Studie
Studienteilnehmer*innen denken mit – und das ist manchmal ein großes Problem beim Design von Studien. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, den Teilnehmenden immer nur ein Medium zu zeigen: Wer einmal WhatsApp-Textnachrichten eingeschätzt hat, wird also niemals Sätze im Printzeitungsformat vorgesetzt bekommen. Wir haben uns dafür entschieden, weil es ziemlich offensichtlich für die Befragten wäre, auf welchen Kontrast wir hinauswollen, wenn sie mal eine Textnachricht und mal eine Zeitung sehen würden. Die Befürchtung liegt nahe, dass die Teilnehmenden in diesem Fall nur deshalb unterschiedlich antworten, weil die Stimuli anders aussehen. Können wir einen Unterschied beobachten obwohl eine konkrete Person immer nur eine Version gesehen hat, wären diese Ergebnisse umso zuverlässiger.
Die Stichprobe: Wer hat teilgenommen?
374 Teilnehmer*innen haben den Online-Fragebogen vollständig ausgefüllt. Wie so oft bei Online-Studien war die Abbrecherquote mit 60,9% recht hoch. Da wir explizit auch an den Einschätzungen von eher älteren Mitgliedern der Sprachgemeinschaft interessiert waren, haben wir u.a. bei Volkshochschulen – bspw. in Computerkursen für Senioren – die Werbetrommel für die Umfrage gerührt. Das hat offenbar ganz gut funktioniert. Über alle drei Aufgaben hinweg waren immerhin 43,6% der Teilnehmer*innen über 40 Jahre alt, 22,5% der Befragten waren älter als 50 Jahre. Eine solche Altersverteilung findet man nicht allzu oft bei Online-Fragebogenstudien. Das wird auch dadurch deutlich, dass ungefähr genauso viele Leute zwischen 52 und 87 Jahren teilgenommen haben wie Menschen zwischen 24 und 30 Jahren.
Frauen dominieren mit ca. 75% unsere Stichprobe. Außerdem haben ca. 65% der Befragten angegeben, dass sie sich „beruflich (oder im Studium) mit Sprache oder den Regeln der Sprache“ beschäftigen. Fast alle Befragten (ca. 95%) gaben an, dass Deutsch ihre Muttersprache sei.
Ergebnisse der Rezeptionsaufgabe
In der Rezeptionsaufgabe mussten die Befragten pro Satz zwei Einschätzungen abgeben: (1) „Finden Sie den Satz in einer Textnachricht / in einer Zeitung in Ordnung (abgesehen vom Inhalt)?“ und (2) „Geben Sie eine Einschätzung: Wie viel Prozent der Bevölkerung finden den letzten Satz in einer Textnachricht in Ordnung (abgesehen vom Inhalt)?“. Beide Fragen mussten mit einem Slider zwischen den Werten 0 und 100 beantwortet werden. Wir haben beide Fragen gestellt, weil wir uns dafür interessierten, inwieweit die Antworten voneinander abweichen, denn die erste Frage zielt auf die persönliche Einschätzung ab, und bei der zweiten Frage musste eine eher allgemeine Einschätzung der Sprachgemeinschaft gegeben werden. Auf die Unterschiede können wir hier nicht im Detail eingehen. Nur so viel: Grundsätzlich gilt, dass die Befragten sich selbst als strenger einschätzten als die Gesamtbevölkerung. Oder, wie es ein 68-jähriger Teilnehmer in einem Freitextfeld am Ende der Umfrage pointiert formulierte: „Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung dritter Personen. Sartre: Die Hölle, das sind die anderen“. In dieses Freitextfeld konnten die Befragten eintragen, was sie glaubten, welchen Zweck wir mit der Studie verfolgten.
Zur tatsächlichen Fragestellung unserer Studie: Unterscheiden die Befragten zwischen verschiedenen Medien bei der Einschätzung der Angemessenheit? Die kurze Antwort ist „nein“ – das wahre Bild ist etwas komplizierter.
Zunächst fällt auf, dass die Antworten im Zeitungskontext immer strenger ausfallen als für Textnachrichten. Der Printzeitungskontext scheint also unabhängig von der Version des Satzes ein stärkeres Normbewusstsein zu aktivieren. Insofern könnte man behaupten, dass unsere Befragten die Angemessenheit nicht je nach Medium unterschiedlich einschätzten. Allerdings ist auch zu sehen, dass die Unterschiede zwischen Textnachricht und Zeitung in den nicht-schriftstandardsprachlichen Varianten V2 und Ellipse etwas größer werden. Für die Einschätzungen zur Gesamtbevölkerung gilt das gleiche.
Das bedeutet:
- Die Befragten haben generell an Zeitungen einen höheren sprachlichen Anspruch (sogar in der Standard-Variante Vletzt).
- Die nicht-standardsprachlichen Varianten V2 und Ellipse werden auch in Textnachrichten als deutlich weniger angemessen eingeschätzt als die Schriftstandard-Variante Vletzt.
- Der Unterschied der eingeschätzten Angemessenheit zwischen Standard-Variante und den Nicht-Standard-Varianten ist für Textnachrichten aber etwas kleiner, was darauf hindeutet, dass eben doch leicht „mildere“ Maßstäbe an Textnachrichten angelegt werden als an Texte in Zeitungen.
- Trotzdem gilt ganz klar: Das Normbewusstsein der Befragten („Vletzt ist richtig, alles andere ist falsch.“) wurde in der Umfrage offenbar auch für Textnachrichten sehr stark aktiviert und „überschreibt“ eventuell vorhandene Unterschiede bei den Angemessenheitsmaßstäben („Was in Zeitungen unangemessen ist, kann in Textnachrichten durchaus angemessen sein.“) fast komplett.
Diese zusammenfassenden Punkte gelten auch unabhängig von der Online-Kompetenz der Befragten. Auch das Alter der Befragten, das nicht zwangsläufig mit der Online-Kompetenz zusammenhängen muss, verändert das oben beschriebene Muster nicht grundlegend.
Hinweise auf Frauen als Innovationsträgerinnen sprachlichen Wandels?
Ein Unterschied zwischen Frauen und Männern zeigt sich nur insofern, dass die männlichen Befragten die elliptische Version „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil Ausbildung“ auch in einer Textnachricht als sehr unangemessen einschätzen. Bei den weiblichen Befragten liegen die Werte hier höher, nämlich ungefähr auf dem Niveau der V2-Version „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil sie hat die passende Ausbildung.“ Nimmt man an, dass die stark verkürzte Fassung ohne Verb die innovativste ist, da sie am meisten von der bestehenden schriftsprachlichen Norm abweicht, könnte das ein schwacher Hinweis auf einen Umstand sein, den William Labov 1990 formuliert hat. Dieser besagt, dass – generell gesprochen – Frauen die stärkere Triebfeder des Sprachwandels seien („women are generally the innovators in linguistic change“). Es sei bemerkt, dass dies in der linguistischen Forschung hauptsächlich auf soziale Faktoren und nicht etwa auf biologische Konstanten o.ä. zurückgeführt wird.
Zusammenfassung
In diesem Blogbeitrag habe ich gezeigt, wie die Studie entstanden ist und welche Gedanken wir uns beim Design der Materialien und der Durchführungslogik gemacht haben. Bisher habe ich lediglich die Ergebnisse einer Aufgabe präsentiert, die wir den Teilnehmenden gestellt haben. In dieser Rezeptions- bzw. Bewertungsaufgabe konnten wir nur sehr schwache Hinweise darauf finden, dass ein relativ bekanntes Phänomen wie weil-Sätze in Verbletzt- vs. Verbzweitstellung tatsächlich als unterschiedlich angemessen eingeschätzt wird, je nachdem in welchem sprachlichen Medium es auftritt. Der überwiegende Teil unserer Ergebnisse deutet eher darauf hin, dass das sprachliche Normbewusstsein in allen Altersgruppen recht stark aktiviert wurde und bis auf die Ebene der sprachlichen Angemessenheit – zumindest im Kontext unserer Studie – „durchschlägt“. In nachfolgenden Beiträgen möchte ich zeigen, wie sich das in den anderen Aufgaben ausgestaltet. Dies sind zum einen die Produktionsaufgabe, in der die Befragten Sätze vervollständigen sollten. Zum anderen die Assoziationsaufgabe, in der die Teilnehmenden Sätze zu einem bestimmten Medium zuordnen sollten. Es wird interessant sein, zu sehen, ob in diesen Aufgaben stärkere Hinweise auf unterschiedliche Angemessenheitsmaßstäbe zu sehen sind.
Dies ist der zweite Blogpost zu unseren Projektergebnissen. Weitere Beiträge folgen. Unsere vollständigen Ergebnisse publizieren wir 2020 im Sonderheft Deutsche Sprache (3/2020 Open Access). Über die Veröffentlichung informieren wir auf unserem Blog. Zum ersten Teil der Projektergebnisse geht es hier.
Ein Gedanke zu “„… weil Ausbildung.“ – Eine Studie zur Einschätzung der Angemessenheit von Texten in WhatsApp und Printmedien”