Vor einigen Wochen haben wir hier die Ergebnisse einer Teilaufgabe aus unserer Online-Studie beschrieben. Es ging dabei um die Bewertungen, die die Befragten in der Rezeptionsaufgabe hinterlassen haben.
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Eine kurze Zusammenfassung:
- Wir haben die Studie in drei Aufgaben geteilt: Rezeption, Produktion und Assoziation. Die Teilnehmenden wurden einer dieser Aufgaben zufällig zugeordnet. In diesem Post soll es um die Produktionsaufgabe gehen.
- In der Rezeptionsaufgabe wurde deutlich, dass die Befragten generell einen höheren sprachlichen Anspruch an Zeitungen haben.
- Die nicht-standardsprachlichen Varianten (V2: „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil sie hat die passende Ausbildung“; Ellipse: „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil Ausbildung.“) werden auch in Textnachrichten als deutlich weniger angemessen eingeschätzt als die Schriftstandard-Variante (Vletzt: „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil sie die passende Ausbildung hat.“).
- Insgesamt haben wir argumentiert, dass das Normbewusstsein der Befragten in der Umfrage offenbar sehr stark aktiviert wurde. Fragen der sprachlichen Angemessenheit in verschiedenen Textsorten oder Registern scheinen dabei fast komplett „überschrieben“ zu werden. Dieses Normbewusstsein kann mit dem Satz ausgedrückt werden: „Vletzt ist richtig, alles andere ist falsch – egal wo.“
Weil-Nebensätze sind ein prominentes Thema, auch unter Linguistik-Laien
Bevor wir die Ergebnisse aus der Produktionsaufgabe vorstellen, möchte ich kurz von der Konferenz „Was ist Grammatikalität?“ in Bamberg berichten, auf der wir die gesammelten Ergebnisse der Studie vorstellen konnten. Offenbar ist genau jenes Phänomen, das wir als Untersuchungsgegenstand gewählt haben, also Weil-Nebensätze mit V2-Stellung, sehr prominent – auch in Diskussionen unter linguistischen Laien. Wie einige andere Beiträge auf der Konferenz zeigten, erkennen Sprecherinnen und Sprecher solche Konstruktionen sehr schnell. Man sagt, das Phänomen sei „salient“. Das war uns beim Konzipieren der Studie auch teilweise bewusst. Nur haben wir offenbar die Folgen unterschätzt, die diese Salienz auf die Ergebnisse haben kann. Es ist gut denkbar, dass eben dieses bewusste Nachdenken über eine bestimmte sprachliche Konstruktion das Richtig-Falsch-Denken fördert und Aspekte wie unterschiedliche Angemessenheit in unterschiedlichen Registern in den Hintergrund treten lässt.
Sie hat gute Chancen auf den Job, weil …
Umso gespannter können wir sein, ob die Ergebnisse der Produktionsaufgabe in eine ähnliche Richtung deuten. Die Teilnehmenden sollten hier Sätze vervollständigen, und zwar wieder in einer der beiden Textsorten. Die Stimuli, also die Materialien, die wir den Befragten vorlegten, waren fast identisch mit jenen aus der Produktionsaufgabe. Lediglich der letzte – entscheidende – Satz war nicht vollständig. Wir haben also (nebst Kontext) Sätze der Art „Sie hat gute Chancen auf den Job, weil …“ in einer Zeitung und einer Textnachricht vorgegeben. Zusätzlich haben wir drei „Reizwörter“ angegeben, von denen die Befragten beim Vervollständigen der Sätze eines verwenden sollten. Im konkreten Beispiel waren das „Erfahrung“, „Qualifikation“ und „Ausbildung“. Welches dieser Reizwörter die Teilnehmenden mehrheitlich wählten, interessierte uns gar nicht – wir wollten die Befragten lediglich auf eine falsche Fährte locken, damit nicht unmittelbar ersichtlich wurde, was unser eigentliches Erkenntnisinteresse war.
Im nächsten Schritt haben zwei Personen unabhängig voneinander die eingegebenen Satzvervollständigungen eingeteilt in die Kategorien Vletzt, V2 und kein Verb. Die folgenden Vervollständigungen wurden bspw. in Vletzt eingeteilt:
- … sie Erfahrungen in dem Bereich hat.
- … genau jemand mit ihrer Qualifikation gesucht wird.
- … ihre Qualifikation sie dafür geradezu prädestiniert.
In V2 wurden zum Beispiel die folgenden Sätze eingeteilt (kursiv die eingegebene Fortsetzung):
- Er fährt lieber mit der Fähre nach Island, weil er hat starke Flugangst.
- Er will nicht essen, weil er macht Diät.
- Er will in den Urlaub fahren, weil er muss Überstunden abbauen.
Bis auf einen Fall bestanden alle Fortsetzungen, die als kein Verb klassifiziert wurden, aus nur einem Wort. Ich verzichte deshalb auf Beispiele. Die Personen, die die Sätze in die drei Kategorien eingeteilt haben, waren sich in allen 518 Fällen einig.
Ergebnisse
Zunächst fällt auf, dass die überwältigende Mehrheit der Vervollständigungen in Vletzt-Form eingegeben wurden, also entsprechend des Schriftstandards. Das waren ingesamt 492 Vervollständigungen (95% aller Fälle). Auch in dieser Aufgabe scheint also ein sehr starkes Normbewusstsein durchzuscheinen.
Interessant ist aber auch, wie sich die restlichen 5% (26 Eingaben) verteilen. Diese 26 Vervollständigungen stammen von 11 Personen, insgesamt wurden 61 Personen der Produktionsaufgabe zugeteilt. Es sind also nicht einzelne Personen verantwortlich, dass tatsächlich solche Varianten produziert wurden. Tatsächlich zeigt sich auch in der Produktionsaufgabe, dass – wenn überhaupt Nicht-Schriftstandard produziert wird – dieser hauptsächlich in Textnachrichten generiert wird: 24 der 26 Varianten wurden nämlich im Medium Textnachricht verfasst. Von diesen 24 sind die V2-Nebensätze in der Minderheit: Es wurden 8 V2-Nebensätze produziert und 15 elliptische Strukturen – ein Satz war ein ungrammatischer mit „um“ eingeleiteter Nebensatz: „Er will in den Urlaub fahren, weil um sich vom Stress zu erholen.“
Fast nur Schriftstandard – wenn nicht, dann in Textnachrichten
Wir sehen also, dass offenbar auch in der Produktionsaufgabe sehr stark das sprachliche Normbewusstsein der Befragten aktiviert wurde, denn es gab fast nur Vletzt-Vervollständigungen. Das passt zu den Ergebnissen der Rezeptionsaufgabe, in denen grundsätzlich die Vletzt-Varianten höhere Akzeptabilitätswerte aufwiesen als jene Varianten, die nicht dem Schriftstandard entsprechen.
Ein weiterer Aspekt passt ebenfalls ins Bild und kommt beim Vervollständigen von Sätzen noch ein wenig stärker zum Vorschein: Wenn vom Schriftstandard abgewichen wird, dann fast ausschließlich im Medium Textnachricht. Das deutet darauf hin, dass hier die V2- oder Ellipsenvariante zumindest leicht angemessener ist als in einer Printzeitung.
Es wird interessant sein, zu sehen, wie sich das in der dritten Aufgabe verhält, die wir den Teilnehmenden gestellt haben. Hier baten wir die Befragten, eine konkrete sprachliche Äußerung zu einem oder mehreren Textsorten zuzuordnen – es handelte sich also um eine Assoziationsaufgabe. Die entsprechenden Ergebnisse werden wir als einen der nächsten Beiträge auf diesem Blog veröffentlichen.
Dieser Beitrag ist der vierte in einer Reihe von Beiträgen, in denen wir die Ergebnisse unseres Projekts vorstellen. Den Anfang machte eine Fallstudie zum Konnektorengebrauch im Internet. Im zweiten Beitrag haben wir die Ergebnisse der Rezeptionsaufgabe in der Onlinestudie vorgestellt. Der dritte Beitrag beschäftigte sich mit Werkzeugen zur automatischen Qualitätsbeurteilung deutscher Webtexte.